Mittwoch, 29. April 2009

Ohne Titel

Die Abwesenheit der Bilder / Sarah, Sie machen Kompilationsfilme, das heißt, Sie montieren Bildmaterial, das Sie vorfinden. Als Sie anfingen, an "For Cultural Purposes Only" über das Palästinensische Filmarchiv zu arbeiten, fanden Sie keine Bilder. Warum haben Sie weitergemacht?

Es war genau diese Abwesenheit der Bilder, die mich gereizt hat. Die Palästinensische Filmkooperative gründete ihr Archiv 1976, das 1982 während der Belagerung von Beirut verloren ging. Ich wollte wissen, was es heißt, wenn eine ganze Epoche der Filmgeschichte, eine ganze Kultur der Repräsentation auf einmal zerstört wird.

Was wissen Sie über die Geschichte des Archivs?

In Ihrem Film beziehen Sie sich auf fünf Filme, zwei verschollene, einen momentan nicht verfügbaren und zwei, die noch im Umlauf sind. Sie behandeln aber alle gleich: Während Sie Erinnerungen früherer Zuschauer an die betreffenden Filme nacherzählen, zeichnet ein Illustrator simultan die Szenen dazu. Warum haben Sie bei den erhaltenen Filmen nicht auf das Bildmaterial zurückgegriffen?

Die kollektive palästinensische Erfahrung wird bis heute durch fremde Repräsentationen wie die Nachrichtenbilder internationaler Agenturen beherrscht. Das wollte ich abbilden. Die Idee für das Verfahren mit den Zeichnungen entstand bei einem Spiel. Ich erfand Geschichten, die der Illustrator Woodrow Phoenix aus dem Stegreif bebildern sollte. Dabei wurde mir klar, dass ich dabei zusah, wie sein Gehirn die Informationen selektierte und interpretierte. Er zeichnete eine Landkarte seiner Vorstellungswelt. Indem ich Woodrow einsetzte, um die Erinnerungs-Sequenzen zu zeichnen, wollte ich beim Zuschauer ein Bewusstsein schaffen dafür, wie subjektiv und willkürlich eine solche Interpretation ist, und wie sehr wir von ihr abhängig sind.

Ziemlich frustrierend

Ja, man soll das Gefühl bekommen, nicht genug zu sehen. Wenn dann erhaltene Filmbilder auftauchen, die ich eingestreut habe, ist der Kontrast immens. Ich hoffe, dass die Zuschauer dadurch sensibel werden dafür, wie eklatant der Verlust dieses Archivs ist.

Nach welchen Kriterien haben Sie eigentlich die fünf Filme ausgesucht?

Mein Ausgangspunkt waren die Erinnerungen ehemaliger Zuschauer, sie bestimmten die Wahl der Filme. Weil ich einen Kurzfilm gemacht habe, musste ich mich beschränken, deshalb habe ich nur Filmemacher, Festival-Kuratoren und Filmkritiker befragt.

Wie haben Sie diese Leute gefunden? Beim Lesen alter Filmkritiken?

Ich kann kein Arabisch, also habe ich Ausschau nach Übersetzungen gehalten - die meisten waren auf Französisch. Die Nouvelle Vague war sensibel für die in den Sechzigern entstehenden unabhängigen Kinobewegungen und unterstützte sie. Ich habe Texte aus dieser Epoche verwendet als Würdigung, zumal das politische Kino heute Gefahr läuft, aus dem kulturellen Gedächtnis zu verschwinden.

Haben Sie nie darüber nachgedacht, selbst Material für Ihren Film zu drehen? Interviews mit Kino-Aktivisten wie Annemarie Jacir oder dem Altmeister Mustafa Abu Ali?

Nein. In meinem Film geht es nicht um einzelne Personen, sondern um die größeren Möglichkeiten des kollektiven Gedächtnisses und Handelns. Wenn die Zuschauer neugierig werden und nach den Arbeiten der genannten Künstler suchen, umso besser.

Neben Akteuren der Filmszene spielen Kinder eine zentrale Rolle in Ihrem Film. Sie stehen für eine Art Unschuld originärer Erinnerung. Die Frische, mit der man Dinge zum ersten Mal wahrnimmt, jenseits aller Konventionen. Spiegelt das nicht Ihr Wunschdenken?

Anfangs war ich im Zweifel - Wenn eine Kultur so sehr in der Opferrolle wahrgenommen wird, ist die Versuchung groß, das Machtgefälle abzubilden, ohne es in Frage zu stellen. Die Darstellung der Kinder schien mir die Perspektive der Ohnmacht zu untermauern. Dann rang ich mich aber durch, die Energie und neuen Möglichkeiten, für die Kinder auch stehen, zuzulassen. Kais Al-Zubaidi drückt es sehr schön aus im letzten Teil meines Films. Er beschreibt wie, als er seinen Film "Away from Home" (1969) zum ersten Mal den Kindern in einem Flüchtlingslager in Syrien zeigte, dass sie ähnlich reagierten wie die allerersten Kinozuschauer, die Ende des 19. Jahrhunderts die Kurzfilme der Brüder Lumière sahen. [Das Publikum verließ voller Panik den Kinosaal, als auf der Leinwand ein frontal in einen Bahnhof einfahrender Zug zu sehen war. Anm. d. Red.] Wir werden ständig mit immergleichen Bildern aus dem Nahen Osten bombardiert. Es war sinnvoll, den Film mit einem Neuanfang enden zu lassen. Ja, heimlich wünsche ich mir sogar, dass die Zuschauer so reagieren mögen wie diese Kinder: Dass sie die Bilder in einem neuen Licht zu sehen.Zu Beginn Ihres Films sieht man Araber an Gleisen entlanglaufen. Es folgen Straßenszenen mit Kamelen. Von wann sind sie, wer hat sie gemacht?

Das erste sind tatsächlich Aufnahmen der Brüder Lumière vom Bahnhof in Jerusalem. Der erste Film, der überhaupt in Palästina gedreht wurde, vor mehr als 100 Jahren. Die nächste Sequenz ist aus der Zeit des Britischen Mandats und wurde von einem Amerikaner auf Pilgerreise im Heiligen Land fotografiert. Die erste palästinensische Produktion entstand in den 30er Jahren. Sie ging 1948 verloren.

Auch sonst ist die Geschichte des palästinensischen Films eher fragmentiert.

Ja. So ist die Sequenz aus Kais Al-Zubaidis Film mit den Kindern, die sich in den Bildern wiedererkennen, auch ein Hinweis auf die Geschichte des palästinensischen Kinos. Die Filmkooperative in Beirut reagierte damals mit ihren Arbeiten vor allem auf den Bedarf eines in alle vier Winde zerstreuten Volkes nach aktueller Selbstwahrnehmung anstelle des orientalistischen Blicks westlicher Kameras.

In einem Interview sagten Sie, Sie seien es gewohnt, bei der Arbeit frei wählen zu können aus einem reichen Vorrat vorhandener Bilder. Ein solcher Optimismus ist doch ein wenig naiv. Steckt nicht auch im Westen eine Politik der Repräsentation und Restriktion hinter Sammelstrategien großer Archive?

Das klingt natürlich naiv, aber das liegt daran, dass ich mich vorher nie auf die Suche gemacht hatte nach Bildern, die fehlten. Ich habe immer die Bilder in Frage gestellt, die unsere Kultur beherrschen. Mich interessierte die Bilderflut, die Wiederholungen, die zwangsläufig dazu zu führen scheinen, dass die Bilder mit der Zeit sinnentleert werden.

Dagegen sind die Bilder Ihres Palästina-Films nur so mit Bedeutung aufgeladen.

Die Wahrheit ist: Filme gehen leicht verloren. Sie sind ein empfindliches Medium. Und im Verlust des palästinensischen Filmarchivs spiegelt sich dazu die noch große Tragödie des palästinensischen Volkes, das so viel mehr verloren hat als seine Selbstrepräsentation.

/ Interview: Natalie Soondrum. Copyright © FR-online.de 2010 // Zur Person
Sarah Wood macht seit zehn Jahren Experimentalfilme. Ende 2009 stellte sie ihren Film "For Cultural Purposes Only" für die Internetplattform "Animate Projects" des Britischen TV-Senders Channel 4 fertig: www.animateprojects.org/ films/by_date/2009/ for_cultural

Zahlen zum Vergleich: Das Palästinensische Filmarchiv sammelte während seines Bestehens mehr als 100 Filme, von denen eine Handvoll erhalten sind. Das Bundesarchiv/Filmarchiv in Berlin zählt 146.000 Filme aus 100 Jahren deutscher Kinematographie. Es zählt zu den größten Filmarchiven der Welt. Im Israelischen Filmarchiv lagern 30.000 Vorführkopien und 20.000 Filme auf Video sowie Tausende Negative. Das Archiv wurde von einer unabhängigen Filmkooperative in Beirut gegründet, die ihr als Zentrum ihrer Aktivitäten diente. Die Mitglieder drehten ihre Filme in den Flüchtlingslagern in Syrien und im Libanon. Neben einem Filmlager verfügte das Archiv auch über einen Vorführraum. Die Kooperative sammelte nicht nur unabhängige palästinensische Filme, die nach dem Sechstagekrieg 1967 entstanden, sondern alles Bildmaterial aus Palästina.